Hier der Artikel aus dem Hamburger Abendblatt
Wacken -
Die Ravioli waren schon gestern Mittag aus. "Gerade nachbestellt", sagt Kaufmann Hans-Jacob Boll (50) und verschwindet in den Tiefen seines Ladens. Kein Blick für die enttäuschten schwarzgewandeten Gestalten vor dem leeren Regal. "Keine Zeit." Nicht mal für ganze Sätze. Klar, der Mann macht in dieser Woche das Geschäft des Jahres. Und da tun sich immer wieder neue Probleme auf. Gerade jetzt: Die nächste Palette Dosenbier muss schnell in den Laden. "Wir verkaufen Tausende Liter", sagt Boll.
Trotzdem wird draußen vor der Tür die Schlange immer länger. "Bier, Sangria, Zigaretten, Ravioli und Grillfleisch", zählt Dulla (17) aus Dortmund auf, was man so braucht auf dem "Wacken-Open-Air". Es ist das 17. und inzwischen größte Heavy-Metal-Festival weltweit mit 55 000 Fans - mitten in der norddeutschen Provinz. Auch beim Bäcker, beim Drogeriemarkt, vor dem Geldautomaten, sogar vor der Apotheke stehen sie an. Dulla - auch der dicke Kajalstrich kann die Augenringe nicht überdecken - und ihre Clique haben schon alles, was sie brauchen. Die Glücklichen. Sie sitzen an der Bordsteinkante inmitten des schier endlosen Stroms von Menschen in Schwarz, der sich zwischen dem 120 Hektar großen Festivalgelände und dem Dorf walzt.
Wenige Stunden vor Beginn stauen sich die Autos fünf Kilometer vor dem Ort. "Das ist Ausnahmezustand", sagt Bürgermeister Axel Kunkel (45). Aber die Stimmung im 1800-Einwohner-Dorf sei gut. Der Mann ist von der CDU und seit sieben Jahren im Amt. Auch wenn er keine Metal-CD im Schrank habe, sein Wacken-Eintrittsbändchen trägt er mit Stolz am Arm. "Das Festival ist eine tolle Sache für den Ort." Und was ist mit hämmernden 120-Dezibel-Beats bis morgens um drei Uhr, Tonnen von Müll, Ortsschildern, die abmontiert werden müssen, damit sie nicht geklaut werden, ganz zu schweigen vom völligen Stillstand des normalen öffentlichen Lebens? "Wir sind damit gewachsen", sagt der Dorfchef und betont ausdrücklich den friedlichen Charakter der Veranstaltung. "Und außerdem profitieren ja viele Wackener auch davon."
Kaum ein Haus entlang der Hauptstraße, wo nicht ein Imbiss, Ausschank oder mindestens ein Dixi-Klo aufgebaut ist. Fremdenzimmer sind schon Jahre im Voraus ausgebucht. "Kleines Frühstück: 3 Astra 2 Euro " preist eine Familie vor ihrem Rotklinkerhaus an, allerdings nur bis 13 Uhr. Hier trifft norddeutscher Geschäftssinn elementare Fan-Bedürfnisse. Und alle sind's zufrieden. "Wir freuen uns doch, dass es einmal im Jahr so richtig losgeht", sagt Renate Schneider (55), die in der Bäckerei Sievers im Akkord verkauft.
Auch im Textilhaus Rowedder hat man sich auf die andere Klientel eingestellt. Statt bunter Sommergarderobe dominieren schwarze Hose, Gummistiefel und das eigens entworfene Wacken-Shirt mit Ortschild. "Aber wir verkaufen auch viele warme Socken, Unterhosen und Sicherheitsnadeln", sagt Inhaber Volker Vette (67). In den 17 Jahren, seitdem es das Festival gibt, hat er so einiges mitbekommen, auch wenn er die Musik nicht unbedingt mag. Sein schönstes Erlebnis jedes Jahr: Der Auftritt der Feuerwehrkapelle. "Unsere Volksmusik kommt gut an", sagt der Tenorsaxofonist. "Die Leute tanzen Polonaise und klatschen."
Die Partystimmung steckt einfach an. "In diesen drei Tagen ist das Leben anders", sagt Marion Reimers (34), die mit ihrem Mann Volker (33) einen Milchviehbetrieb bewirtschaftet - direkt gegenüber dem Eingang zum Festivalgelände. Abends sitzen die Reimers oft vorm Haus und gucken nur: "Wie Fernsehen."
erschienen am 4. August 2006!!