Autor Thema: Überhangmandate  (Gelesen 2495 mal)

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ae8090

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Überhangmandate
« am: Mittwoch, 23. September 2009 - 12:36:41 »
Machen wir doch mal ein kleines bisschen ganz konkrete Politik hier:

Auch bei der kommenden Bundestagswahl werden aller Voraussicht nach wieder einige Überhangmandate verteilt werden. Überhangmandate entstehen dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als ihr in diesem Bundesland nach Zweitstimmen zustehen würde. (Man kann ja auch schlecht einem der direkt gewählten Kandidaten sagen: Du bist zwar gewählt, darfst aber trotzdem nicht - auch wenn ich den einen oder anderen wüsste, dem ich das liebend gerne sagen würde ...).

Beispiel:
In Schleswig-Holstein haben wir bei der Bundestagswahl 2009 elf Wahlkreise, also wird SH mit 22 Abgeordneten im nächsten Bundestag vertreten sein. Eringt jetzt beispielsweise die SPD (oder die CDU - das ist egal) einen Stimmanteil, der ihr fünf Mandate in Berlin zuspricht und die SPD (oder eben CDU) erringt hier in SH vier Direktmandate, so kommt noch ein Kandidat über die Landesliste ins Parlament und alles ist in Butter. Erringt die SPD aber nicht vier, sondern sechs Direktmandate, bei gleichem Zweitstimmenanteil, so stünden der SPD ja eigentlich nur fünf Mandate zu, sie hat aber über die direkt gewonnenen Wahlkreise schon sechs Mandate im Bundestag. Also ein Überhangmandat.

In der Vergangenheit haben vor allem die beiden großen Parteien von den Überhangmandaten profitiert. Schon bei der ersten Bundestagswahl 1949 hat es Überhangmandate gegeben, davon eines für die Union (Adenauer wurde anschließen im Bundestag mit einer einzigen Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt!), aber auch bei der Abwahl von Kohl und dem Wahlsieg der späteren rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder 1998 waren bei der insgesamt 21 Mandaten betragenden Mehrheit im Bundestag 13 Überhangmandate (alle für die SPD) dabei. Ob es sich ohne die Überhangmandate hätte so "komfortabel" regieren lassen?

Da die Praxis der Überhangmandate zur Verzerrung des Wahlergebnisses führen kann(*), hat das Bundesverfassungsgericht diese derzeitige Praxis für verfassungswidrig erklärt und bis 2011 eine Frist gesetzt, eine Neuregelung in Kraft zu setzen.

Einige Länder versuchen bei Landtagswahlen diesen bei der Bundestagswahl kritisierten Effekt aufzuheben, indem sogenannte Ausgleichsmandate vergeben werden, wenn Überhangmandate anfallen. Das kann aber zu einer gewaltigen Aufblähung des Parlamentes führen.

Ich finde, wir können hier gemeinsam Möglichkeiten des zukünftigen Umgangs mit Überhangmandaten erarbeiten und diskutieren. (@ Admins: --> siehe KN) Vielleicht finden wir ja tatsächlich eine gute Lösung, die dann ganz oder teilweise in die Gesetzgebung in Berlin eingang findet.

Übrigens: Wer sich intensiver in die Materie einlesen möchte, dem sei als Einstieg der wikipedia Artikel zu Überhangmandaten empfohlen.

* Ja, ich weiß, ich habe das hier jetzt etwas verkürzt dargestellt. Konkret ging es in dem Verfahren um die sogenante negative Stimmengewichtung. Ich wollte das hier jetzt aber nicht in aller epischer Breite und akademischr Tiefe monologisieren, da es für die von mir erhoffte Diskussion nicht wirklich was austrägt. Falls doch, kann es jede/r nachlesen oder ich trage es gerne nach.

Offline ToRü | ToРуз

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Re: Überhangmandate
« Antwort #1 am: Mittwoch, 23. September 2009 - 14:56:15 »
Um es kurz zu sagen: Überhangmandate sind ab 2011 passé.

CDU und SPD haben sich einer Regelung vor diesem Datum verschlossen, insofern kann ich das gejaule der SPD nun nicht verstehen.

Das D'Hondt-Verfahren benachteiligt nachweislich kleinere Parteien, andere Verfahren sind da fairer und bilden den Wählerwillen realer ab.

Die Frage ist: Macht es Sinn Direktmandate abzuschaffen, nur noch Parteien zu wählen? Oder können Direktkandidaten nur noch innerhalb der prozentualen Parteienverteilung in die Parlamente einziehen? Schwieriges Thema.
Respektiere jede Meinung. Gefallen muss sie mir ja nicht. Und das sag ich dann auch.
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Offline Slartibartfass

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Re: Überhangmandate
« Antwort #2 am: Mittwoch, 23. September 2009 - 15:59:54 »
Bei 299 Wahlkreisen könnte es im Extremfall 299 Überhangmandate geben.  ::)

Das Abschaffen der Direktmandate ist nicht unbedingt zu begrüßen. Auch wenn die meisten Abgeordneten sowieso nur "Stimmvieh" im Bundestag sind, die nach Fraktionsvorgabe entweder "dafür" oder "dagegen" stimmen (*) so halte ich es für wichtig, dass man als Wähler "seinen" Bundestagsabgeordneten hat, an den man herantreten kann, und der, wenn auch nur im begrenzen Umfang, für seine Wähler eintritt.

- Ob man die Wahlkreise für die Direktmandate vergrößern sollte ist eine Frage, die es Wert ist, diskutiert zu werden. 1 Abgeordneter für 500000 Stimmberechtigte anstatt wie bisher für ca 200000 Stimmberechtigte.

- Eine andere Sache um die Anzahl der Überhangmandate zu reduzieren wäre es, "an der Sache mit den Landeslisten" herumzuschrauben. Ich finde es ein Unding, dass eine Partei einerseits Überhangmandate (in einem Bundesland) bekommt, in einem anderen Bundesland aber Kandidaten über die Landesliste einziehen dürfen. Würde man das alles auf den kompletten Bund beziehen, würde es eine geringere Verfälschung des Wählerwillen geben.

Das wollte ich nur mal in die (hoffentlich) entstehende Diskussion einwerfen.



(*) Ja ich weiß, das war jetzt verallgemeinert, aber wenn ich Sätze wie "für diese Abstimmung ist der Fraktionszwang aufgehoben" höre, dann wird mir schlecht.
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ae8090

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Re: Überhangmandate
« Antwort #3 am: Donnerstag, 24. September 2009 - 09:57:19 »
naja, wie das mit den Abstimmungen im Bundestag, dem Fraktionszwang und dem Abgeordneten, der nur seinem Gewissen verantwortlich ist, ist, ist ein anderes Thema (boah! welch Satzkonstruktion mit drei x "ist"!) Und allgemeine Abgeordneten-Schelte ohne konkret zu weden finde ich immer so destruktiv und wenig austragend.

Aber Dein Hinweis, Slarti, die Landeslisten gegeneinander aufzurechen bzw eine Art "Bundesliste" zu führen, das ist ein interessanter Ansatz. Ob das mit unserem förderalen System vereinbar ist, weiß ich nicht, denn nicht der Bund konstituiert die Länder, sondern die Länder konstituieren den Bund. (Darum ist ja auch der Bunderratspräsident - also einer der Ministerpräsidenten - Stellvertreter des Bundespräsidenten und eben nicht der Präsident des Bundestages!) Und dieses Grundprinzip würde damit wohl angekratzt.

Aber vielleicht ließe sich das Problem auch lösen zB dadurch, dass die Landeslisten bestehen bleiben und in eine Reihenfolge gesetzt werden (die gleiche Reihenfolge, der der Bundesratsvorsitz zugrunde liegt und immer das Land, welches grade den Bundesratsvorsitz führt, ist oben), und dann kommt eben abwechselnd ein Abgeorneter aus NRW, einer aus Bayern etc.

Könnte vielleicht funktionieren, klingt aber ziemlich aufwendig.

Mir kam noch eine andere Idee. Die Kombination von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht hat sich in Deutschland ja durchaus bewährt. Aber warum muss die Kombination denn unbedingt so aussehen, dass die Direktmandate von den Listenplätzen abgezogen werden (und nur dann kann es Überhangmandate geben!)? Auf Schleswig-Holstein bezogen würde es beuten: Es werden elf Direktmandaste vergeben und mit der Zweitstimme nochmals elf, je nach prozentualem Anteil. Aber eine gegenseitige Aufrechnung findet nicht mehr statt.


Offline Slartibartfass

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Re: Überhangmandate
« Antwort #4 am: Donnerstag, 24. September 2009 - 10:01:58 »
Und allgemeine Abgeordneten-Schelte ohne konkret zu weden finde ich immer so destruktiv und wenig austragend.
Deswegen ja mein (*) :)


Zitat
Es werden elf Direktmandaste vergeben und mit der Zweitstimme nochmals elf, je nach prozentualem Anteil. Aber eine gegenseitige Aufrechnung findet nicht mehr statt.
Dadurch würden die großen Parteien ja noch mehr bevorzugt werden.
Da finde ich meinen Vorschlag mit weniger Direktkandidaten besser. :)
Es wird nie so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.

Blubb

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Re: Überhangmandate
« Antwort #5 am: Donnerstag, 24. September 2009 - 10:25:51 »


Aber Dein Hinweis, Slarti, die Landeslisten gegeneinander aufzurechen bzw eine Art "Bundesliste" zu führen, das ist ein interessanter Ansatz. Ob das mit unserem förderalen System vereinbar ist, weiß ich nicht, denn nicht der Bund konstituiert die Länder, sondern die Länder konstituieren den Bund. (Darum ist ja auch der Bunderratspräsident - also einer der Ministerpräsidenten - Stellvertreter des Bundespräsidenten und eben nicht der Präsident des Bundestages!) Und dieses Grundprinzip würde damit wohl angekratzt.


Angekratz ja, aber ich sehe darin nicht das große Problem. Das föderale System findet ja gerade seinen Ausdruck in dem Zusammenspiel der "zwei Kammern", nämlich dem Bundesrat als Ländervertretung und dem Bundestag als Vertretung des Bundes. Demnach könnte es auch Bundeslisten zur Bundestagswahl geben. Das wäre mMn auch die einfachste Möglichkeit um dem negativen Stimmgewicht beizukommen.