Autor Thema: Sarrazin - Provokateur oder Kolporteur?  (Gelesen 5316 mal)

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Blubb

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Re: Sarrazin - Provokateur oder Kolporteur?
« Antwort #30 am: Dienstag, 14. September 2010 - 12:31:52 »
Und Unwille zur Integration kommt ja auch nicht von irgendwo her, sondern hat auch seine Ursachen, die ich nicht nur in der Kultur suchen würde, sondern auch im Linksliegenlassen seitens des Staates.

 Unwillen zur Integration - und Du siehst ihn auch, blubb? Sarrazin meint das auch ;)

Sooooo schnell kann man Dinge verdrehen...

Also in meinem Bekannten- bzw. Kollegenkreis kann ich das nicht sehen, aber das muss ja nicht repräsentativ sein. Es scheint diesen Unwillen aber zu geben, wohlgemerkt in einer kleinen Minderheit. Wobei ich nicht mal glaube, dass es ein echter Unwille ist, sondern eher eine Reaktion darauf wie man seit Jahren mit den Migranten, vor allem aus dem islamischen Kulturkreis, umgeht. Man beachtet sie nicht, woraus Frustation entsteht. Die überragende Mehrheit der Einwanderer will sich hier integrieren, nur wird ihnen dazu auf breiter Basis wenig Möglichkeit gegeben. Immer nur auf Einzelprojekte zu setzen ist nicht der richtige Weg.

Offline Brilonius

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Re: Sarrazin - Provokateur oder Kolporteur?
« Antwort #31 am: Mittwoch, 15. September 2010 - 19:58:58 »
Eure Gutmenschen – Argumente, sicherlich hübsch formuliert, flogen wie Pfeile auf mich zu. Deprimiert ob meiner eigenen Unzulänglichkeit und Schlichtheit duckte ich mich weg und verzog mich forumsmäßig in die unaufregende Rätsel- und Schachecke. Doch nun möchte ich noch etwas in der Sarrazin – Suppe  herumrühren, obwohl ich mich sicherlich einige Male wiederholen werde.
Ich gebe zu, ich habe gewagt, dieses Thema in die Runde zu werfen und war auch mindestens an einer Stelle populistisch (so breughel), ohne das Buch gelesen zu haben. Übrigens: mein Populismus zeigte keine Wirkung, entweder war  es war gar keiner oder es fehlt mir an Charisma, wahrscheinlich das Letztere.  ;D

Als 0%-Leser fühle ich mich ganz wohl und habe auch nicht vor, befördert zu werden. Für das Geld dieses verteufelten Buches bekomme ich die zwei mir noch fehlenden Bände der „Millennium-Trilogie“ des leider schon verstorbenen Stieg Larsson und zwar: „Verdammnis“ und „ Vergebung“. Eine gewisse Assoziation zu unserem Thema, finde ich. Und diese beiden Bücher lese ich in Dänemark während eines Urlaubes im November vor einem prasselnden Kaminfeuer nach einem Saunagang. Ist doch viel spannender und gemütlicher  als endlose Zahlenreihen und Tabellen nachzurechnen und sich womöglich noch in die Irre führen zu lassen. Und wenn ich dann morgens Brötchen kaufen werde, darf in meiner Bestellung, die ich gern mal in meinem holprigen Schlichtdänisch versuche, nicht die Zahl 7 – syn – vorkommen. Ich hab es einmal versucht, es misslang kläglich, die Verkäuferin sagte: „Das kann kein Deutscher und wird es auch niemals lernen“, dabei lächelte sie.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei den Prozentzahlen. Breughel ist Spitzenreiter mit 70%, Capitano und blubb haben einen Schnupperkurs belegt, bei den anderen weiß ich es nicht, vielleicht Tendenz gegen 0.
Als 0-Mann bin ich natürlich auf die bösen Medien angewiesen, die meist nur einzelne Zitate bringen. Ich versuche mal – alles natürlich ohne Gewähr – grob den Inhalt Sarrzins Buch wiederzugeben, so wie er sich mir darstellt:

Sarrazin beschreibt soziale Probleme, die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft Deutschlands, die sich aus der Verflechtung von Geburtenrückgang und der aus seiner Sicht problematischen Zuwanderung ergibt. Er schließt aus Statistiken, daß Deutschland schrumpfe und immer dümmer und abhängig von Sozialtransfers wird. Außerdem beklagt er den Unwillen einiger muslimischen Einwanderer zur Integration, besonders in Ballungsgebieten.

Meine Bewertung: Das bisherige staatliche Zuwanderungskonzept ist gescheitert. Es gibt aber auch tlw. eine Integrationsverweigerung auf Seiten der Einwanderer, die sich in unserem Sozialsystem bequem einrichten, wie Sarrazin m.E. richtig erwähnt. Immerhin sind lt. Ausländerlagebericht 72%  der türkischen Zuwanderer im arbeitsfähigen Alter ohne Berufsabschluß. Dagegen halte ich: Ein echtes, vielfältiges Angebot zur Integration hat es aber auch kaum gegeben, z.B. wurden Sprachkurse aus Geldmangel gekürzt, die Probleme wurden bisher einfach verharmlost.
Ich glaube, Multikulti  im Großen gibt es nicht mehr, ich selbst möchte gern tolerant sein, jeder soll nach seiner Fasson selig werden, ich habe türkische, russische und kasachische Bekannte, Nachbarn, alles prima Leute, höflich, hilfsbereit. Warum funktioniert das nicht überall? Wahrscheinlich liegt es an einer wachsenden Islamfeindlichkeit, die Vorbehalte gegen den Islam sind nicht zu unterschätzen. Die Leute haben noch den 11. September im Kopf, werden jeden Tag mit Terroranschlägen, Hetztiraden und radikalen islamischen Ideen konfrontiert. Es gibt einige Gründe zum Mißtrauen und Gründe, Sarrazins Buch gut zu finden.
Sarrazin belegt seine Thesen mit Statistiken, Zahlenkolonnen und Tabellen. Diese Zahlen sind wohl von Wissenschaftlern und ehrenvollen Statistikern erstellt worden. Daran zweifele ich nicht. Doch Sarrazin zieht daraus einige falsche und verhängnisvolle Schlüsse und Scheinzusammenhänge, z.B. diesen: Arme sind überwiegend dumm und zeugen dumme Kinder, da Dumme mehr Kinder bekommen als Schlaue, verblödet Deutschland.
Abgesehen von diesem Mist zur Vererbungslehre und einiger menschenverachtender Aussagen spricht  Sarrazin auch unbequeme Wahrheiten an. Ihn einfach an den Pranger zu stellen, reicht nicht, die Politiker müssen schon die angesprochenen Mißstände sehen und versuchen, sie zu beseitigen. Und diese polemische, aufgeheizte Sprache hat es immerhin geschafft, daß Politiker aller Parteien auf einmal eine Debatte „ohne Tabus“ wünschen. Also waren da vorher Tabus.

 
Auf den 1. Blick spaltet dieses Buch, doch auf den 2. könnte es auch ein Ansporn sein, daß sich Moslems und Christen untereinander besser verstehen, daß sie es einfach m ü s s e n, denn im Zeitalter der Globalisierung sind die christliche und die islamische Welt untrennbar miteinander verbunden.
In dem Zwang zur Einsicht sehe ich den eigentlichen Sinn des Buches, gewissermaßen, wenn man so will, im höheren Sinn; wenn Ihr versteht, was ich meine, ich kann es einfach nicht anders ausdrücken


breughel

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Re: Sarrazin - Provokateur oder Kolporteur?
« Antwort #32 am: Mittwoch, 15. September 2010 - 20:01:20 »
Puh, das ist Schwerarbeit und eher eine persönlich, philosphische Ausarbeitung.
Ich danke Dir für deine Stellungnahme - allemal eine persönlicher Anstrengung und differenzierter als erhofft.

Offline ToRü | ToРуз

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Re: Sarrazin - Provokateur oder Kolporteur?
« Antwort #33 am: Donnerstag, 16. September 2010 - 09:50:17 »
Toller Beitrag, Brilonius!

Die Leute, die Sarrazin verurteilen haben sich über das, wie er schreibt und argumentiert, ausgelassen, aber das was er schreibt nicht verstehen wollen, weil es unbequem ist.
Respektiere jede Meinung. Gefallen muss sie mir ja nicht. Und das sag ich dann auch.
Toleranz und Moral ist immer die Toleranz und Moral der anderen.